Worauf warten wir noch?!

Sitzender Engel
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Ich starre auf die Uhr, die mir gegenüber hängt. Das gibt’s doch nicht! Mein Termin war vor über einer halben Stunde und noch immer sitze ich hier im Wartezimmer. Nervös rutsche ich auf dem Stuhl hin und her. Was ich in dieser Zeit sonst alles tun hätte können … An der Predigt für Sonntag schreiben, die Unterrichtsstunde für morgen vorbereiten, die Spülmaschine ausräumen oder Zeit mit der Familie verbringen … Rumsitzen und auf jemanden oder etwas warten, das ist doch Zeitverschwendung! Oder? Das kann man auch ganz anders sehen: Der Herr, der mir in dem Wartezimmer gegenübersitzt und der meine Unruhe offensichtlich wahrgenommen hat, sagt zu mir: „Sie scheinen unter Zeitdruck zu stehen, falls ich zuerst drankomme, lasse ich Sie gerne vor.“ Verwirrt frage ich zurück: „Danke. Haben Sie denn Zeit?“ Er lacht und antwortet: „Wenn man meinen Terminkalender fragt nicht, aber wissen Sie, Wartezeit ist für mich geschenkte Zeit. Da ist mal nichts, was mich ablenkt und ich kann meine Umwelt ganz bewusst wahrnehmen.“  Noch lange habe ich darüber nachgedacht. Wartezeit nicht als Zeitverschwendung, sondern als geschenkte Zeit …

Eigentlich ist das ganze Leben von Warten erfüllt. Worauf warten wir noch? Wir warten, dass endlich Frieden ist auf der Welt.
Wir warten auf die große Liebe. Wir warten auf das ganz große Glück, das endlich kommen soll. Wir warten, dass das Leid ein Ende hat. Wir warten auf Veränderungen in unserem Leben. Wir warten auf Antworten und darauf, endlich zu verstehen.

Dagegen sind das Warten auf den Arzttermin oder auf den Bus natürlich Kleinigkeiten und doch haben sie mit den großen Wartethemen etwas gemeinsam: Wir verspüren Ungeduld, Unruhe, Sehnsucht und vielleicht auch Groll.

Und dann kommt die Adventszeit einmal im Jahr. Die Wartezeit schlechthin. Die Adventszeit macht uns vielleicht nochmal sehr bewusst, worin unser Warten im Leben besteht. Das Warten in der Adventszeit bündelt all unsere Sehnsüchte. Und ich muss an den Herrn im Wartezimmer denken. Wartezeit als geschenkte Zeit … Ich glaube, die Adventszeit ist so eine geschenkte Wartezeit. Die Zeit im Jahr, in der wir uns ganz bewusst werden können, was um uns herum geschieht und worin unsere tiefsten Sehnsüchte bestehen. Außerdem ist es die Zeit im Jahr, wo uns klar wird: Unser Warten bleibt nicht im luftleeren Raum. Alles, worauf wir so sehnsüchtig warten, ist nicht in unerreichbarer Weite. Zu Unruhe und Ungeduld gesellen sich Vorfreude und Hoffnung. Worauf warten wir im Advent? Darauf, dass Gott zu uns kommt und damit der Frieden, die Veränderung, die Antwort auf unsere Fragen.

Im Alten Testament erzählt die Bibel von Menschen, die die Ankunft des Retters, des Heilands erwarten. Zum Beispiel in Sacharja 9,9 lesen wir: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ Diese messianischen Verheißungen wurden später von den Verfassern neutestamentlicher Schriften mit der Geburt Jesu in Verbindung gebracht und damit als Erfüllung der Verheißungen gedeutet: In Jesu Geburt kommt Gott zu den Menschen. Licht erfüllt die Dunkelheit. Alles klärt sich.

Daran erinnern wir uns in der Adventszeit. Gott enttäuscht unsere Erwartungen nicht, unser Warten geht nicht ins Leere. Auch nach Weihnachten nicht, wenn Baumschmuck und Krippe schon längst wieder im Keller verstaut sind und der graue Alltag uns wieder einholt. Denn für ChristInnen ist die Adventszeit dann nicht vorbei. Worauf warten wir dann noch? Dietrich Bonhoeffer hat es so beschrieben: „Adventszeit ist Wartezeit, unser ganzes Leben aber ist Advents- das heißt Wartezeit auf’s letzte, auf die Zeit, da ein neuer Himmel und eine neue Erde sein wird.“ Das bedeutet noch mehr geschenkte Zeit für uns, erfüllt von der Hoffnung und der Erwartung, dass eines Tages all unsere Sehnsüchte an ein Ziel gelangen.

Worauf warten wir also noch?! Lassen Sie uns die Zeit des Wartens als geschenkte Zeit sehen. Lassen Sie uns Platz machen in unseren Herzen, für die Hoffnung und für die Freude. Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Advents- und Wartezeit!

[Pfarrerin Charlotte Merget-Fell]