Kirchenmusik im 21. Jahrhundert - Was ist eigentlich eine Kantorin, ein Kantor?

„Was machen Sie beruflich?“; wenn man mich so fragt, mag ich am liebsten stolz nur so antworten: „Ich bin Kantorin!“ Leider gelingt diese Antwort oft nicht und ich muss dann sofort ergänzen: „Ich bin Kirchenmusikerin ...“. Die meisten Menschen sagen danach: „Ach so, Sie spielen sonntags Orgel. Können Sie da etwa auch mit Händen und Füßen spielen??“

Die Berufsbezeichnung leitet sich ab vom Lateinischen „canere“ (singen) und beschreibt ursprünglich den Vorsänger im sogenannten Gregorianischen Choral (einstimmige Gesänge des Mittelalters, zusammengefasst durch Papst Gregor), später wurde der Gesangsmeister in Schule und Kirche so bezeichnet. Neben der liturgischen Rolle als Vorsänger im Gottesdienst bezeichnet der Begriff Kantorin oder Kantor auch die in einer Gemeinde für die Kirchenmusik verantwortliche Person, wobei Kantoren zumindest bei der evangelischen und katholischen Kirche ein Kirchenmusikstudium absolviert haben müssen.

Die kirchenmusikalische Tätigkeit zählt zu einer der vielseitigsten und anspruchsvollsten Musikberufe überhaupt und hat eine Fülle von abwechslungsreichen Aufgaben; die musikalische Gesamtverantwortung und Planung, die Orgelbegleitung der Gemeinde im Gottesdienst, die Leitung von Kantoreien, Kirchen- und evtl. Gospelchören aller Altersstufen, die Orchesterleitung, die Arbeit mit Bands oder Instrumentalensembles wie Posaunenchören und Bläserensembles, die Leitung von Kinder- und Jugendchören, die musikpädagogische Ausbildung der Nebenamtlichen, das Spielen eigener Orgelkonzerte außerhalb der Gottesdienste, die Organisation und Veranstaltung von Konzerten, auch mal das Komponieren und Arrangieren von Musikstücken, die Finanzplanung, … und dazu gehören natürlich das Orgelüben, die Probenvorbereitung und die Besprechungen.

Was ist Kirchenmusik?

Als Kantorin, die seit über 30 Jahren in verschiedenen Bereichen der Kirchenmusik arbeitet, sollte ich wissen, was Kirchenmusik ist. Im Austausch mit Kirchenmusik­kolleginnen und -kollegen weiß ich, wovon wir reden. Denn wir teilen die gleichen Interessen, die Kirchenmusik definieren.

Doch schwierig wird es in Gesprächen mit anderen Musikerinnen und Musikern, mit Freundinnen, Freunden und Bekannten. Jahr für Jahr entfremden sich mehr Menschen von der Kirche. Demnach ist es noch komplizierter, diese „alte“ Kirchenmusik präzise zu bezeichnen.

Der Begriff „Kirchenmusik“ wurde in der Geschichte als Abgrenzungsbegriff benutzt. Kirchenmusik grenzte sich von weltlicher Musik ab und bezeichnete Musik im Kirchenraum oder spezielle Musikgenres, wie den Gregorianischen Choral. Kirchenmusik bevorzugte bestimmte Instrumente wie Orgel oder Gesang. Kirchenmusik orientierte sich am Text, der möglichst aus der Bibel stammen sollte.

Kirchenmusik hat eine lange Tradition und Geschichte. Besonders in dieser Zeit, wo viele Menschen der Kirche den Rücken kehren, ist es auch meine Aufgabe Tradition zu bewahren und mit neuen Elementen anzureichern.

Die Musik hat einen besonderen Stellenwert in der Kirche

Seit der Reformation hat die Musik in der evangelischen Kirche einen besonderen Stellenwert. Groß ist die Zahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in der Evangelischen Kirche in Chören, Kantoreien und Ensembles zum Musizieren zusammenkommen. In den letzten Jahren wurden in vielen Kirchengemeinden neben den Chören mit klassischen Repertoires auch Gospelchöre gegründet. Sie alle haben mit ihren Musikstilen teil, an der Verlebendigung der „frohen Botschaft“. Einen ebenso unverzichtbaren Anteil an der kirchenmusikalischen Verkündigung haben die Posaunenchöre und die Bläser. Mittlerweile sind die hauptamtlichen Popular-Kirchenmusikerstellen auch etabliert.

Kirchenmusik als Chance?

„Kirchenmusik“ kann auch „Musik in der Kirche“ heißen. Ich denke, die Kirchenmusik bietet da auch ganz viele Möglichkeiten, sich mit einem Thema zu beschäftigen, ohne jetzt gleich ein Bekenntnis ablegen zu müssen. Ich stelle fest, dass viele Menschen bei der Kirchenmusik ihren Andockpunkt finden. Sie singen mit in Kantoreien und Kirchenchören, obwohl sie vielleicht nicht getauft sind, keine Mitglieder der Kirche. Es gibt Leute, die gehen vielleicht in Kantatengottesdienste und gehören keiner Religion an. Trotzdem fühlen sie sich mit dieser Musik in der Kirche wohl. Zum Beispiel vom Gesang, der von unserer Jugendkantorei auf Englisch gesungen wurde, sind Menschen auch gerührt. Kirchenmusik erreicht Menschen in großer Breite und oft in existenzieller Tiefe.

Mit Corona leben und singen

Seit zweieinhalb Jahren leben wir mit Corona. Jeder hat sich damals gefragt; bleibt alles anders? Online-Probe ohne Perspektive, zu kurze Präsenzprobe durch ständiges Lüften, Singen mit zwei Metern Abstand. Alle Musiker waren frustriert. Dazu kam noch das Problem, weil Musik heute überall ohne Konzerte verfügbar ist. Sogar auf handtellergroßen Geräten sind viele Werke in hochrangigen Einspielungen nahezu zum Nulltarif erreichbar. Durch Corona haben wir schätzen gelernt und alle freuen wir uns auf den Moment, in dem wir dann wieder in der normalen Aufstellung ohne Sorgen singen und musizieren können.

Kulturfaktor im Wandel

Wir sollten uns, als Kantoren, in unsere Gesellschaft hineinstellen/versetzen und schauen, was da los ist und darauf reagieren. Kirchenmusik ist tragendes Element des Gottesdienstes, aber auch unverzicht­barer Teil des kulturellen Lebens in unserer Gesellschaft. Die heutige Herausforderung besteht darin, über den Rahmen von Got­tesdienst und Kirche hinaus generations­übergreifend Menschen zu erreichen und dabei auf eine Transzendenz verweisende Wirksamkeit von Musik zu vertrauen und zu setzen.

[Yoko Seidel]