Kirche

Damals – Heute – Morgen

Sowohl unter Kirchenmitgliedern, als auch unter Kirchenkritikern ist ab und an die Rede davon: Europa sei eine gottlose und säkulare Insel in einer religiösen Welt. Dabei gehen am Wochenende mehr Menschen zum Gottesdienst als in die Bundes­liga­stadien, und in Umfragen bezeichnen sich 70 Prozent der Befragten als religiös. Die beiden großen christlichen Kirchen sind nach wie vor gefragte und mächtige Gemeinschaften in der deutschen Gesellschaft. Ihre Sozialorganisationen Caritas und Diakonie beschäftigen jeweils mehr als 500.000 Menschen und  noch mehr ehrenamtliche Mitarbeiter. Die Sorge vor dem Untergang der christlichen Kirchen ist unberechtigt.

Zugleich ist Kirche im Wandel begriffen. Bei Kindern verliert sich das selbstverständliche Hineinwachsen in die Traditionen der Kirche. Bei Erwachsenen führt die fehlende Bindung zu Kirchenaustritten, die Mitgliedschaft in der Kirche ist zunehmend abhängig von einer bewussten Entscheidung. Was bedeutet das für Kirche, welche Stärken und welche Tauglichkeit hat sie für die Jahrzehnte und Jahrhunderte, die vor uns liegen?

Verschiedene Erwartungen an Kirche

Die Bedürfnisse, die Menschen an Kirche heute haben, sind sehr unterschiedlich. Grob kann man drei Typen von Kirchenzugehörigkeit unterscheiden: Kirchentreue Gemeindeglieder, die regelmäßig verschiedene Angebote ihrer Ortsgemeinde wahrnehmen, kirchenfremde Gemeindeglieder, die sich selbst als schwach verbunden mit der Kirche beschreiben, und eine große Anzahl von Gemeindegliedern, die sich in Halbdistanz zur Kirche sehen und die sich in der letzten großen Mitgliedschaftsum­frage als „etwas verbunden“ sehen.

„Wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus.“  So schreibt Paulus und hat dabei seine Gemeinde in Korinth im Blick, die offensichtlich so wie unsere Gemeinden heute mit verschiedenen Typen von Gemeindegliedern zu tun hat. Paulus geht Glied für Glied dieses Leibes Christi durch und stellt fest, dass jedes einzelne seine Berechtigung, seine Würde und seine Wichtigkeit hat.

Übertragen heißt das, dass die Kirche heute mit und von jedem und für jedes Gemeindeglied lebt. Ohne die Vielzahl an Christen, die das Kirchenleben durch ihre Mitgliedschaft unterstützen, obwohl sie sie kaum in Anspruch nehmen, stünde die Kirche wesentlich schlechter da. Die Erwartungen nach lebensnaher Begleitung, in Form von regelmäßigen Gottesdiensten, Seelsorge am Einzelnen, und die zahlreichen Gruppen und Kreise, die angeboten werden, sind gleichermaßen berechtigt, wie die Erwartung, dass Kirche als ‚Symbol‘ in unseren Städten und Dörfern erhalten bleibt. Menschen ist es wichtig, dass es Gebäude und Räume gibt, die über unsere sichtbare Realität hinausweisen. Dazu gehört die Erwartung, dass sich die Kirche um Notleidende kümmert, dass sie in Schulen, Kindertagesstätten und Kinder- und Jugendgruppen christliche Werte vermittelt genauso wie sie sich politisch zu Wort melden und für Frieden und Solidarität einstehen soll; so wie Jesus Christus uns das vorgelebt hat.

Verschiedene Formen von Kirche

Kirchenmitglied sein, das bedeutet zu einer konkreten Ortsgemeinde zu gehören. Zugleich gehört zu „Kirche“ noch viel mehr. Um den verschiedenen lokalen Situationen und Bedürfnislagen gerecht zu werden, haben sich in der Kirche verschiedene Strukturen und Formen entwickelt. Aus den zunächst kleinen ortskirchlichen Gemeinden, die Paulus und andere in den ersten Jahrhunderten gegründet haben, ist bis heute eine weltweite Kirche entstanden. Eine Kirche, die aus verschiedenen Konfessionen besteht; je nachdem, wen man fragt, bekommt man verschiedene Antworten darauf, wer „zur Kirche“ gehört.

Wenn Sie Gemeindeglied unserer Himmelfahrtskirche Pasing sind, dann gehören sie zu einer evangelisch-lutherischen Gemeinde. Sie ist Teil der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, die wiederum zur Evangelischen Kirche Deutschlands gehört. In Deutschland spricht man bei der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche von Volkskirche, einer Kirche, zu der weite Teile der Bevölkerung gehören und die innerhalb des Staates verschiedene Rechte und Pflichten hat. Andere Kirchen sind

privatrechtlich organisiert, teilweise wollen sie bewusst nicht zu dieser Volkskirche gehören. Zahlreiche weitere Einordnungen sind möglich. Auch hier vor Ort kommen noch verschiedene Strukturen zusammen, Verbünde, die über die Ortsgemeinde hinausreichen, um den kirchlichen Aufgaben auf den verschiedenen Ebenen Nahbereich, Nachbarschaft, Region, Großregion und gesamte Landeskirche gerecht zu werden,

z. B. in den Bereichen Jugendarbeit, Seelsorge oder Diakonie.

„Ein weites Feld …“, das viel Raum zur Entfaltung bietet und in der jedes Gemeindeglied Raum finden kann für seine Spiritualität und seine Bedürfnisse, diese mit Gleichgesinnten zu leben. Zugleich wird es an Stellen schwierig, in denen Entscheidungen anstehen, welche Form Kirche jeweils annehmen soll. „Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen.“ Wie ist dieses paulinische Ideal in der Realität umzusetzen? Wie den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen gerecht werden, mit den Ressourcen, die zur Verfügung stehen? Ist es die Gemeinde vor Ort, die gefördert werden soll oder sind es übergeordnete Strukturen?

Verschiedene Antworten von Kirche

Kirche will nicht nur Kirche für alle sein. Sie ist Kirche für ihre Mitglieder und sie ist Kirche für die Menschen, die sie erleben und nicht zu ihr gehören. Kirche will verschiedenen Erwartungen gerecht werden. An Weihnachten werden zahlreiche Gottesdienste angeboten, um den Menschen einen Raum zu geben, denen diese Feiertage wichtig sind für ihren Glauben. In den Ostertagen werden Kurse angeboten, sie schulen in Wahrnehmung und Achtsamkeit. In den Ostertagen gibt es feierliche Festgottesdienste, im Rest des Jahres auch schlichte Gottesdienste, die der jeweiligen Kirchenjahreszeit entsprechen. Kirche nimmt wahr, dass Religion aus manchen Lebensbereichen ihrer Mitglieder ausgeschlossen wird, und sowohl bei treuen Gemeindegliedern, als auch bei distanzierten Gemeindegliedern gibt es Trauer und Wut über die Dinge, die nicht gut laufen. An manchen Stellen bewirkt geäußerte Kritik die Lust zur Veränderung, an manchen Stellen ist auch angesagt, dem kurzfristigen Wandel unserer Zeit zu widerstehen und auf langfristiger Traditionsbindung zu beharren. In unserer Volkskirche ist es möglich, relative Distanz oder auch intensive Nähe zu Kirche zu leben. Die Kirche wird von Ehrenamtlichen, wie von Hauptamtlichen getragen und jede Gruppe hat ihre Stärken und Schwächen. „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ein Glied.“ Eine gemeinsame Aufgabe haben wir alle, denen die Kirche wichtig ist: Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller.“

Ich freue mich auf unsere gemeinsame Arbeit daran, Kirche zu sein.

 

[Ihre Pfarrerin Sarah Fischer-Röhrl]

(Lesetipps: U. Wagner-Rau, Auf der Schwelle, 2012 und U. Pohl-Patalong, E. Hauschildt, Kirche verstehen, 2016)