Im Übergang

„Schau Dir diesen Himmel an!“ Staunen lag in der Stimme meiner Frau, als wir an den See hinunterkamen. Auf das reine Blau eines Hochs folgte ein Wolkenband, so scharf getrennt, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Beinahe vergaßen wir unsere Handys zu zücken. Kein Windhauch regte sich. Fast glatt dehnte sich der See bis zum anderen Ufer – auch seltsam geteilt in Blau und Grauweiß, so wie der Himmel. Unten wie oben. Es war dieser Umkehrpunkt, an dem sich nichts zu bewegen scheint, fast wie zwischen dem Ein- und Ausatmen. Stille. Falls man das in unseren atemlosen Zeiten noch wahrnimmt, dass es diese Umkehr gibt, dann kennt man das. Am deutlichsten kennen wir es noch vom Sommer: Vor einem Gewitter entsteht eine kurze Windstille.

Selten sind die Übergänge in der Wahrnehmung des Jahreslaufs so scharf getrennt wie das Wolkenband auf dem Titelbild – anders auch als ein Datum einen Zeitpunkt markiert, so wie den Herbstbeginn. Heuer ist das bei uns der 23. September um 9.50 Uhr gewesen, die Tag- und Nachtgleiche, dann wenn der Zenit der Sonne den Äquator überquert.

Der Sommer geht doch – gefühlt – meist allmählich in den Herbst über. Jedoch an einem Morgen, der sich kaum von den Tagen davor unterscheidet, sagen wir: Heute spürt man schon die Herbstluft. Dann hoffen wir auf warme Septembertage, einen goldenen Oktober und einen farbenprächtigen November. Wir sehnen uns nach Licht, wenn die Tage kürzer werden – besonders, wenn die Regentage und trübes Nebelwetter in dieser Jahreszeit überwiegen. Wir können das alles nicht beeinflussen – es kommt.

Der Abschied vom Sommer ist für manche mit Wehmut verbunden, und so hoffen wir auf schöne Herbsttage. Doch für die ruhige Wahrnehmung dessen, was wir empfinden, bleibt für viele kaum Zeit. Häufig dürften zartere Gefühle überdeckt werden von großen Anforderungen im Beruf, einem neuen Schuljahr, dem Beginn der Herbstarbeit – auch in der Kirchen - gemeinde. Manchem raubt der Stress den Atem. Nur noch ein viertel Jahr bis zum Jahresabschluss! Unser Arbeitsjahr läuft doch schier gegensätzlich zum Rhythmus des Naturjahres, das nun in die Stille geht.

Der Herbst, als Übergangszeit zwischen Sommer und Winter, bietet sie nach der Sommerpause erneut an: Die Gelegenheit im Alltag zu ergreifen und immer wieder inne zu halten und durchzuatmen. Man kann ganz praktisch ein paar Minuten in der Stille auf den Umkehrpunkt zwischen Aus- und Einatmen lauschen. Nehme ich diesen feinen Punkt wahr? Bevor das Einatmen von selbst kommt.

Oder am Zenit des Tages kann ich kurz die Seele aufatmen lassen. Ich liebe dieses Gebet, wenn ich in der Pasinger Klinik die Mittagsglocken herüber höre: „Unser Vater, in der Mitte des Tages rufst Du uns zu Stille. Lass auch mich nun einhalten, und in Dir Ruhe und Rast finden. Empfange in dieser Stunde aufs Neue das Lob Deiner Schöpfung, die Verehrung Deiner Kinder.“ Durch Christus unsern Herrn. Amen. (Rummelsberger Brevier, 2008)

Auch den Sonntag und den Gottesdienst können wir immer wieder als Gottes - geschenk für Umkehr und Neubeginn für uns entdecken. Das Neue kommt, es ist Geschenk.

Das sind nur Beispiele. Vermutlich haben Sie Ihre eigenen Ruhepunkte. Oder Sie sehnen sich danach etwas für sich zu entdecken, was Sie aufatmen lässt. Wäre das ein Projekt für diesen Herbst?

Der Herbst bietet insgesamt an, sich zu besinnen auf das, was wichtig ist in unserem Leben. Wer das, trotz allem, was uns in Atem hält, noch tun kann, weiß wie gut es tut: Das wahrzunehmen, was ist. Die Ernte unseres Jahres dankbar zu betrachten: Was uns wichtig geworden ist, was wir geschafft haben und was uns zukam, was uns geschenkt wurde. Auch unserer Verstorbenen zu gedenken gehört dazu – sie waren und bleiben wichtig in unserem Leben mit guten und schweren Erfahrungen. Überhaupt alles Schmerzliche können wir Gott hinhalten.

Unser Kirchenjahr bildet das alte Wissen noch ab: Ein tiefes Verstehen von Geburt und Tod, Tod und Auferstehung Jesu, Anfang und Vollendung, Schenken und Empfangen, wie auch von „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (1. Mose 8,22)

Wenn sich viele Übergänge auch allmählich vollziehen, man kann diese Welt, in der wir leben, doch auch in Gegensätzen und Polen beschreiben, so wie es die Schöpfungsgeschichte der Bibel eröffnet: Gott schuf am Anfang Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Tag und Nacht, oben und unten, Wasser und Festland, Pflanzen und Tiere – und den Menschen als Frau und Mann. Jedoch zwischen den Polenspielt sich dann unser Leben in allen Farbschattierungen ab. „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut.“ (1. Mose 1,31). So betrachtet Gott am Ende des sechsten Schöpfungstags sein vollendetes Werk. Es ist ein Innehalten, Zeit für die Wahrnehmung dessen was geworden ist. Eine schier unauslotbare Symbolik steckt in dieser Geschichte. Der siebte Tag dann, der Sabbat, ist der Ruhetag. An ihm ruht alles Tun und Schaffen. Es ist wie der Umkehrpunkt, die Stille zwischen Aus- und Einatmen. Auf die Ruhe zu geht unser Schaffen, zielt unser Leben, so sagt es die Schöpfungserzählung am Beispiel des Wochenschemas: Auf die Ruhe bei Gott zielt unser Leben. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“, schrieb der Kirchenvater Augustinus (354 – 430). Nicht nur in der Vollendung des Lebens, auch im Vertrauen auf Gott können wir immer wieder Ruhe finden.

Das Staunen und die Dankbarkeit sind Geschenke des Himmels, die das Herz ruhig werden lassen – wir können sie im Alltag einüben und ihnen dadurch immer mehr Raum geben. Gesegnete Herbsttage wünscht Ihnen

[Claus Fiedler, Krankenhauspfarrer in Pasing]