Gottesdienst – wen oder was feiern wir da eigentlich

Der Gottesdienst ist Gottes Dienst – wer dient da wem? Dienen wir Gott: Mit Liedern, Lobgesängen und Gebeten? Oder dient Gott uns? So hat es Martin Luther gesehen und mir mein Pfarrer ins Konfirmandenheft diktiert: Der Gottesdienst wie der Sonntag tun uns Menschen gut – weil es da einmal nichts zu tun, zu schaffen, zu erledigen gibt.

 

Bunte Vielfalt im Lauf der Zeit

Im Nachkriegsdeutschland war es für viele Tradition: Am Samstag polierten stolze Väter den Lack ihrer Karossen in der heimischen Einfahrt blitzeblank. Autowaschanlagen gab’s damals noch nicht. Gegen Abend wurde im Bad der Boiler angeheizt und die Kinder vor dem Bett in die Wanne gesteckt.

Am Tag darauf herrschte Ruhe. Die Läden waren dicht. Die Leute strömten in die Kirche. Wirklich? Zugegeben: Früher waren es mehr. Aber wer hätte das gedacht: Menschen über 60 gehen heute häufiger zum Gottesdienst als vor 40 Jahren. Jugendliche dagegen seltener. Was lässt uns daran zweifeln, dass auch sie in 40 Jahren wiederkommen?

Die Feier des Abendmahls war in meiner Jugend lediglich ein Anhängsel. Selten gefeiert und nur wenige blieben bis zum Schluss. Das hat sich geändert. Es zeigt sich schon am Wort: Aus dem „Gottesdienst mit Abendmahl“ ist der „Abendmahlsgottesdienst“ geworden. In der Himmelfahrts­kirche und in Bartimäus feiern wir ihn mindestens einmal im Monat. In anderen Gemeinden wird der Altar sogar an jedem Sonntag mit Brot und Wein bzw. Traubensaft gedeckt.

In den 70er-Jahren kamen neue Formen hinzu: Analog zur Zahl der damaligen Fernsehsender traten neben den Hauptgottesdienst (1. Programm) Familiengottesdienste mit neuen Liedern (2. Programm) und Gesprächsgottesdienste für „Anspruchs­volle“ (3. Programm).

Anfang der 80er boomten die ersten „Krabbelgottesdienste“. Am Abend gesellten sich Taize-Andachten dazu. Auf Kirchentagen verknüpfte das „Politische Nachtgebet“ Glaube und Politik. Heute erfreuen sich Berggottesdienste, Waldweihnacht und ähnliche Gottesdienste im Freien wachsender Beliebtheit. Bei uns in Pasing locken darüber hinaus Besonderheiten wie Kantatengottesdienste, der „Märchenhafte Got­tesdienst“ am Neujahrstag, Gottesdienste mit Bibliolog, in denen „die ganze Gemeinde predigt“, der Partnerschaftsgottesdienst und vieles mehr zum Kirchgang.

 

Einmal nichts leisten müssen – frei sein

Manchem wird diese Vielfalt zu verwirrend und anstrengend. Während die einen ganz begierig darauf sind, Wünsche und Sehnsüchte, Träume und Gebete auf bunte Zettel zu schreiben, suchen andere am Sonntagmorgen eine Stunde, in der gerade nichts von ihnen verlangt wird. Der Theologieprofessor Kristian Fechtner hat kürzlich darauf hingewiesen, dass es Menschen gibt, die im Gottesdienst einen „Verschonraum“ erwarten, in dem sie sich nicht selbst herausstellen müssen. Leistungsfrei soll es zugehen, in bester evangelischer Tradition. „Verdeckt anwesend und doch berührt“. Weniger „action“, mehr „chill out“. Einfach da sein dürfen. Zeit für mich. Und Zeit für Gott.

Fulbert Steffensky, der schon in unserer Kirche gepredigt hat, würde dem wohl zustimmen: „Schweigen ist das, was unseren Got­tesdiensten am meisten fehlt“, meint er und plädiert für eine „große Absichtslosigkeit“: „Ich wünsche mir wenigstens ab und zu Gottesdienste, in denen wir Gott nichts mitteilen und nichts von ihm wollen.“ In denen wir ihm auch in seiner Fremdheit begegnen können. Der „Verhaustierung Gottes“ trotzen. Gelingt uns das? Sind wir so frei? Halten wir das aus?

 

Nicht jeder darf, aber alle können

Beten kann grundsätzlich jeder. Mit anderen zusammen oder still für sich. Von seinem Glauben erzählen, kann auch jeder: Von dem, was einem wichtig ist. Manchmal gehört Mut dazu. Eine Genehmigung braucht es dazu nicht.

Mit der öffentlichen Rede im Gottesdienst ist es anders. Eine Predigt darf nur halten, wer dazu ordentlich berufen ist. Besondere Weihen wie in katholischen Kirchen gibt es bei uns Evangelischen zwar nicht. Priester, das heißt unmittelbar zu Gott, sind wir alle: Durch unsere Taufe. Doch zur „öffentlichen Wortverkündigung“ und zur „Verwaltung der Sakramente“, wie es in kirchlichem Amtsdeutsch heißt, ist eine offizielle Berufung nötig: Pfarrerinnen und Pfarrer werden ordiniert, Prädikanten beauftragt. Dann dürfen auch sie in der Kirche auf die Kanzel. Unterstützt von Lektoren, die ebenfalls Gottesdienste leiten, aber „nur“ Predigten von anderen vortragen.

Das Wort allein macht es freilich nicht: Es ist die Musik, die es zum Klingen bringt. In der Sprache, die wir sprechen und erst recht in den Liedern, die wir singen. „Wenn ich meine Musik nicht hätte …“, seufzt die alte, fast blinde Frau, die ich ein paar Mal im Jahr besuche, um in einer 

kleinen Andacht das Abendmahl mit ihr zu feiern. Stimmt! Predigten werden wir im Himmel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine mehr hören oder halten. Lieder singen und ihnen lauschen dagegen schon. Halleluja!

[Pfarrer Hans-Martin Köbler]