Die große Stille

Die große Stille
Bildrechte sunset-3689760_by_jplenio_pixabay

Liebe Leserin, lieber Leser des Gemeindebriefs,

es ist wie früher: Wenn Seeleute in einem anderen Hafen waren und einen Brief nach Hause schickten. Sie wussten nicht, wie ihre weitere Fahrt werden würde. Besonders wenn die Jahreszeit schweres Wetter auf dem Meer erwarten ließ. Sie konnten auch nicht erfahren, wie es inzwischen zuhause gewesen war, bis sie dort – hoffentlich gesund – ankamen. Wie erging es ihren Adressaten? Würden sie ihre Lieben nach langer Reise wohlauf antreffen?

Nun schreibe ich Ihnen einen Brief – schon Wochen im Voraus, zwar nicht aus einem Hafen irgendwo auf der Welt, aber doch von einem anderen Ort. Aus meinem Büro im Pasinger Helios Klinikum – zwischen den Jahren. Der Gemeindebrief hat eben eine längere Vorlaufzeit. Im Klinikum ist die letzte Welle der Pandemie wenigstens im Augenblick einigermaßen abgeflacht. Aber die nächste Welle droht ja bereits (und ist inzwischen da). Wir wissen nicht, wie es damit weitergehen wird. Auch weiß ich nicht, wie es Ihnen in der Zwischenzeit erging, wenn Sie dies lesen.

Ein Lied aus Jugendzeiten klingt dazu immer wieder in mir, das von Bewährung durch alle Zeiten hindurch erzählt:

„Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit. Das Ziel, das ihm die Richtung weist, heißt Gottes Ewigkeit. Das Schiff, es fährt von Sturm bedroht durch Angst, Not und Gefahr, Verzweiflung, Hoffnung, Kampf und Sieg, so fährt es Jahr um Jahr. Und immer wieder fragt man sich: Wird denn das Schiff bestehn? Erreicht es wohl das große Ziel? Wird es nicht untergehn? Bleibe bei uns, Herr! Bleibe bei uns Herr, denn sonst sind wir allein auf der Fahrt durch das Meer. O bleibe bei uns, Herr!“ (EG 589).

Obwohl die aktuelle Lage so wichtig ist für unser Leben, bleibt auch Vergewisserndes und Wiederkehrendes wesentlich: Wie die Passionszeit und Ostern im Jahreslauf. Ebenso Ermutigendes durch alle Zeiten, wie Gesangbuchlieder und wie beispielsweise diese bekannte Geschichte aus dem Evangelium:

Als Jesus und die Jünger in einem Boot unterwegs waren, brach ein heftiger Wirbelsturm an. Die Wellen schlugen in das Boot hinein. Die Jünger bekamen Todesangst. Und Jesus? Er schläft hinten auf einem Kissen. Seelenruhig sozusagen. Das bringt die Jünger auf. Sie rufen ihn. „Interessiert es dich nicht, dass wir untergehen?“ Und er steht auf und bringt den Sturm zum Schweigen. Eine große Stille entsteht. (Markus 4, 35–41, auch bei Matthäus und Lukas)

Die Pandemie zum Schweigen bringen? Die Sehnsucht danach ist groß. Es wird auf der Welt leider nicht so schnell gelingen. Jedoch besteht Hoffnung! Wir werden jedenfalls noch Kraft zum Durchhalten und Durchstehen brauchen. Der Sturm ist ja überhaupt ein Bild für das, was auf den Menschen einstürmt. Wir alle kennen Kämpfe um das seelische und gesundheit­liche Gleichgewicht.

Spirituell gelesen, ist die Sturmstillung auch eine Geschichte über den Umgang mit bedrohlichen Gefühlen. Angst etwa kann einen hin und her werfen. Sie kann wütend machen auf die Situation. Mitten in der Bedrohung geht die Angst auch nicht einfach weg. Ich muss damit umgehen. Aber wie? Die Jünger wenden sich an Jesus. Sie suchen seine Hilfe. Ja, es ist gut, nicht um sich selbst zu kreisen. Der erste Schritt, etwas Abstand zu bekommen vom bedrohlichen Gefühl. Auch kann ich mir Bewusst machen: Ich habe Gefühle. Ich bin aber nicht meine Gefühle. Immer kann ich mich dabei an Gott wenden. „Denn sonst sind wir allein auf der Fahrt durch das Meer“. Dann heißt es im Evangelium: „Und Jesus stand auf.“ ER handelt nun, stillt Wind und Wellen. „Und es ward eine große Stille.“ So wie das Sehnsuchtsbild auf dem Titelblatt sie widerspiegelt. Ja, auch innerer Frieden ist ein Gottesgeschenk. Anselm Grün* spricht von einem Raum der Stille in uns, in den bedrohliche Gefühle wie Angst, nicht vordringen können. Die Aufgabe von Religion sei es, zu diesem Raum hin zu führen.

Dieser innere Raum bleibt. Wenn auch nicht immer (oder womöglich selten) spürbar. Ihn wahrzunehmen ist Geschenk und Einübung zugleich.

Und Gott bleibt bei uns. Aber in schweren Tagen ist das manchmal kaum zu glauben. War es jedoch nicht immer wieder einmal in meinem Leben so? Am Tiefpunkt kam nicht selten eine Veränderung, eine Lösung, wie eine Rettung. Das Leben verläuft ja nicht gerade, sondern in Wellenbewegungen. Wie eine Bewegung von Leiden und Tod hin zur Auferstehung. In Jesu Geschichte bilden sich auch Erfahrungen unseres Lebens ab. Das bleibt auch. Und damit auch die Zusage: Er versteht, wie es uns geht. Wir sind nicht allein.

Mehr noch: Die Jünger suchten Hilfe in der Not. Sie suchten Gottes Gaben und erfuhren in Jesus Gott selbst. Deshalb heißt es bei Lukas (8, 25) am Ende: „Sie fürchteten und verwunderten sich“. Denn es ist eine Erfahrung jenseits des Begreifens.

Diese Bitte etwa, „bleibe bei uns, Herr“, kann uns begleiten. Als zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus am Abend ihren Begleiter ins Haus bitten: Bleibe bei uns, Herr. Da kehrt er bei ihnen ein. Am Brechen des Brotes erkennen sie Jesus. Der am Kreuz gestorben ist, er ist auferstanden! (LK 24, 13–35) Es ist nicht zu fassen, aber verändert alles … bestimmt ihre Zukunft … und die vieler durch die Jahrhunderte …

„Bleibe bei uns, Herr!“ So oder mit anderen Worten, die uns am Herzen liegen, können wir uns an ihn wenden. Und er steht auf. Das ist uns verheißen. So, dass wir immer wieder mit ihm aufstehen können und einmal in Gottes Licht auferstehen werden. Dass Sie – etwa in der Stille – immer wieder etwas davon erahnen oder gar spüren können, wünsche ich Ihnen.

[Claus Fiedler, Krankenhauspfarrer in Pasing]

*in einem YouTube Video: „Die Wahrheit macht frei“, Pater Dr. Anselm Grün, Der Sinn des Lebens, QS24 Gesundheitsfernsehen