Die ganze Gemeinde predigt. Was ist das – ein Bibliolog?

Ein paar Mal im Jahr bleibt die Kanzel beim Gottesdienst in der Himmelfahrtskirche leer. Die ganze Gemeinde predigt. Frage: Wie geht das? Antwort: Im Rahmen eines Bibliologs!

Wie bei den meisten Predigten steht ein Abschnitt aus der Bibel im Mittelpunkt. Die Gemeinde geht auf eine imaginäre Reise: Mitten hinein in eine biblische Geschichte.

Der Abschnitt wird vorgelesen. An mehreren Stellen wird die Lesung unterbrochen. Der Leiter des Bibliologs wählt eine Person aus, die entweder direkt im Text genannt wird oder einen Platz in der Geschichte haben könnte. Er stellt dieser Gestalt eine Frage und richtet diese an die Gemeinde: „Stell dir vor, du wärst … ein Jünger, ein Zeitgenosse Jesu, eine Frau des Abraham, ein Engel.“

Wem etwas einfällt, meldet sich und spricht es aus. Der Bibliologe wiederholt, was er gehört hat. Hin und wieder fragt er nach. Dann sagt der nächste, was ihm oder ihr durch den Kopf geht. So entsteht ein bunter Strauß von Gedanken und Meinungen. Gefühle kommen hoch. Geschützt durch die fremde Rolle können ganz persönliche Empfindungen geäußert werden.

Zwei Regeln sind wichtig. Die erste: Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“. Was einem durch den Kopf geht oder durchs Gemüt: Es ist so, wie es ist. Die zweite Regel lautet: Jeder kann mitmachen. Vorkenntnisse braucht es in der Regel nicht. Keiner muss etwas sagen. Aber jeder darf. Das entlastet.

Immer wieder fasziniert es mich, wie schnell man auf diese Weise mitten drin ist in einer biblischen Geschichte. Wir können erleben und spüren, was damals war. Oder hätte sein können.

Der „Gründungsmythos“

Peter Pitzele, ein Literaturwissenschaftler und Psychodramatherapeut hat diese Form des Umgangs mit der Bibel vor 30 Jahren erfunden. Oder besser: Er hat sie entdeckt.

Es geschah aus einer Verlegenheit heraus: Ein Freund, der am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York als Lektor tätig war, bat ihn, eine Vertretungsstunde für ihn zu übernehmen.

Pitzele sagte spontan zu – und merkte erst später, dass er sich damit übernommen hatte: Wie sollte er mit dem schmalen Wissen, das er über seine eigene Religion als Jude besaß, angehende jüdische Theologen unterrichten?

Mit gemischten Gefühlen stieg er die vier Stockwerke des JTS hinauf. Im Klassenzimmer angekommen begann er zunächst mit einleitenden Worten und Entschuldigungen – nicht die schlechteste Weise, miteinander in Kontakt zu kommen.

Dann sagte er: „Ich weiß, dass Sie sich bisher mit Führen und Gemeindeleiten beschäftigen. Darum möchte ich Ihnen heute vorschlagen, sich in die Figur des Mose hineinzuversetzen. In seinen Schuhen zu gehen. Und mir, als der Mose, der Sie sind, einige Dinge über Führungsqualitäten, über Leiterschaft zu erzählen, die Ihnen besonders wichtig erscheinen.“

Zunächst blieb es ruhig. Die Gedanken von Peter Pitzele fingen an zu rasen. Eine andere Idee hatte er nicht. Kein weiteres Konzept. „Wenn sie darauf nicht anspringen, hätte ich’s vermasselt“, schrieb er später. „Es würden dann die längsten 90 Minuten meines Lebens werden.“

Einer meldet sich – und weiß nicht so recht, was er sagen soll. „Sie sind jetzt Mose“, erinnert ihn Pitzele. „Also gut“, sagt der Student und fängt zu reden an. Pitzele fragt nach. Ein zweiter meldet sich. Ein dritter. Und so weiter. So sprechen sie. Von Mose. Von sich selbst. Über ihre Zweifel, Hoffnungen und Ängste. Verborgen und geschützt in der Rolle des Mose. Am Ende ist die Stunde wie im Flug vergangen.

Der Midrasch: Schwarzes und weißes Feuer

In den vergangenen Jahren hat sich diese Methode, mit biblischen Texten umzugehen, ständig weiter entwickelt. Zwischen den Buchstaben des Textes, dem so genannten „schwarzen Feuer“, beginnt das „weiße Feuer“ zu lodern. Das entspricht der rabbinischen Tradition des Midrasch: Vorgegebene Texte werden mit eigenen Gedanken gefüllt, ergänzt und ausgeschmückt.

Einen typischen Midrasch kennen wir alle: Das weihnachtliche Krippenspiel. Aus der kurzen Bemerkung, Josef und Maria hätten keinen Platz in der Herberge gefunden, haben sich rührende und gesellschaftskritische Szenen in ungezählter Vielfalt entwickelt.

Am Pfingstsonntag feiern wir in der Himmelfahrtskirche den nächsten Gottesdienst mit Bibliolog. Es könnte kaum einen schöneren Anlass geben als den, der diesem Fest zu Grunde liegt. In der Pfingstgeschichte wird berichtet:

„Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und 

fingen an zu predigen in andern Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“ (Apostelgeschichte 2)

Ich bin gespannt, was sich an unserem Pfingstfest um 10 Uhr im Gottesdienst entwickelt und lade Sie herzlich dazu ein.

[Pfarrer Hans-Martin Köbler]