Corona und die Psalmen

Skulptur von Bernhard Apfel
Bildrechte H-M Köbler - Skulptur von Bernhard Apfel

Es ist gewagt, schon jetzt, zum Redaktionsschluss Anfang April, etwas zum Thema Corona zu schreiben. Wer weiß, was in acht Wochen sein wird, wenn Sie diesen Gemeindebrief in den Händen halten?

Im März, am Anfang der Krise, ist vieles atemberaubend schnell gekommen und oft ganz anders als gedacht. Die Vorstellungsgottesdienste haben wir gerade noch geschafft. Beim letzten reichten die Konfirmandinnen und Konfirmanden den Klingelbeutel bereits an langen Stangen durch die Reihen. Um Corona keine Chance zu geben! Kurz darauf haben wir alle vier Konfirmationen abgesagt. Gut, dass wir die Mail-Adressen der Eltern hatten: So konnten wir diese Verschiebung mit den Familien absprechen.

In diesen Wochen habe ich immer wieder ein Wechselbad an Gefühlen und Meinungen durchlebt. Worüber gestern noch gestritten wurde – das war ein paar Tage später schon erschreckend selbstverständlich.

Vieles hat sich verändert in den Tagen des „Shutdown“. Plötzlich keine Gottesdienste mehr. Nicht einmal in der Karwoche und an Ostern. Das gab es noch nie in fast 2000 Jahren christlicher Geschichte!

Angst und Kreativität

Gottes Geist – er wehte trotzdem. Und wie! In und außerhalb der Kirche. Gemeinden wurden kreativ. Bündelten ihre Nachbarschaftsaktivitäten. Improvisierten. Erste Videokonferenzen! Das Neue hat auch Spaß gemacht. Manche filmten ganze Gottesdienste ab und stellten sie ins Netz.

Ich selbst habe in diesen Tagen die Startseite unserer Website im Internet kurzerhand zur „Chefsache“ erklärt und meine technischen Fähigkeiten aktiviert. So konnten wir immer aktuell auf Gottesdienste und andere Angebote aufmerksam machen. Als Ergänzung zu den Links haben wir persönliche Video-Botschaften hochgeladen.

Persönlich gepackt hat mich die Angst, als ich von einem meiner Brüder hörte: Der kam, fast auf den letzten Drücker, ins Krankenhaus. Plötzlich war die Gefahr ganz nah! Ein Familientreffen zum Gottesdienst mit Liedern meines Vaters hatten wir kurz vorher abgesagt. Was wäre passiert, wenn nicht?

Wenige Tage später. Auf dem Weg zum Arzt. Ich fahre mit dem Auto auf der Hackerbrücke. Sie ist menschenleer! Eine mir durchaus vertraute Szene – allerdings nur aus Science-Fiction-Filmen. Aus einer fiktiven Zeit „danach“. Nach einer Katastrophe … Sind wir jetzt schon soweit? Schießt es mir durch den Kopf.

Mit einem Mal ist wieder von „Seuchen“ die Rede. Nicht nur abstrakt oder in Drehbüchern, die im Mittelalter oder in der Zukunft spielen. Corona ruft uns in Erinnerung: Wir haben unser Leben keineswegs so sicher in der Hand, wie uns moderne Möglichkeiten träumen lassen.

Hoffnung in Zeiten von Corona

Liedverse aus dem Gesangbuch – früher oft nur dahingesungen – werden plötzlich aktuell. Sprüche aus der Bibel fangen an zu leben: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ So steht es in diesen Tagen auf dem Blatt mit den Abkündigungen. Im Gottesdienst kann das nun nicht mehr vorgelesen werden. Jetzt hängt es im Schaukasten. Fett gedruckt. Jeder kann und soll es lesen. Aller Angst zum Trotz!

Besonders wertvoll für mich „in den Zeiten von Corona“: Die Psalmen. Sie schildern Leid und Krankheit. Angst und Sterben. Not und Tod. Die „Pest, die im Finstern schleicht“ und die „Seuche, die am Mittag Verderben bringt“.

Aber nicht nur. Wenige Zeilen später finden sich ganz andere Gedanken. Eltern wählen sie oft als Taufspruch für ihr Kind: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten, auf allen deinen Wegen.“

„Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ So beginnt dieser 91. Psalm.

Jetzt, in der Krise, fällt es mir plötzlich auf: Es scheint nicht das selbstbewusste Gebet eines unerschütterlich Frommen zu sein, der davon überzeugt wäre: Das Böse kann mir nichts! Da redet jemand nicht von sich selbst. Sondern in der 3. Person.

Beschreibt er einen anderen? Was er da sagt, das ist ihm selbst voraus. Der Beter kann es nicht mit seinen eigenen Erfahrungen beweisen oder gar begründen. Muss das auch nicht: Die Hoffnung, von der er spricht, reicht weit über ihn hinaus.

Stimmungsumschwung – Wechsel der Perspektive

Psalmen wie dieser gliedern sich oft in zwei Teile. Zunächst wird das Leid beschrieben. Ungeschminkt, ausführlich, konkret. Danach folgt, was Theologen den „Stimmungsumschwung“ nennen. Überraschend. Plötzlich. Unvermittelt: „Du aber, Gott“, so geht es oft weiter, „hast mich erhört“, gerettet, warst bei mir.

Im Studium haben wir darüber gerätselt: Ob die Verfasser solcher Psalmen diesen zweiten Teil erst später hinzugefügt haben? Nachdem sie gesund geworden waren? Es doch noch einmal gut ausgegangen ist?

Vielleicht ist es auch das, was Zukunftsforscher mit Re-Gnose meinen. Im Gegensatz zur Pro-Gnose. Prognosen kennen wir: Man blickt nach vorne in die Zukunft. Hoffnungsvoll optimistisch oder auch skeptisch furchtsam. Oder irgendwie dazwischen. Wer weiß?

Bei einer Re-Gnose ist es genau umgekehrt: Man „beamt“ sich in Gedanken in eine Zeit „danach“ – und blickt von dort zurück. Von einem Standpunkt jenseits der aktuellen Krise.

Jetzt lautet die Frage: Worüber werden wir uns wundern? Später einmal? Im Nachhinein?

Ein solcher „Perspektivenwechsel“ bringt auf andere Gedanken. Er relativiert die Angst. Befreit. Nimmt Neues in den Blick. Schenkt Hoffnung, Kraft und Zuversicht.

Was ist an Gutem gewachsen in der Krise? Was hat sich durch sie vielleicht sogar verbessert? Was haben wir daraus gelernt?

Gut möglich, dass dieser „Trick“ sich auch in der Geschichte vom ersten Pfingstfest spiegelt. 50 Tage nach Ostern: Menschen überwinden ihre Angst. Verstehen einander. Auch jene, die in fremden Sprachen reden und aus anderen Kulturen stammen. Sie halten zusammen. Das Herz geht ihnen auf. Alle Welt staunt: Was für ein Wunder!

Was Propheten immer schon ersehnt und erwartet haben – allerdings erst für das Ende aller Zeiten – das wird jetzt wahr. Es ist viel näher, als du denkst!

Gottes Geist wirkt unter uns. Schon jetzt. Verbindet. Tröstet. Motiviert. Gesegnete Pfingsten – und bleiben Sie behütet!

[Ihr Pfarrer Hans-Martin Köbler]

 

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Darstellung der „Heiligen Geistin“

So zu sehen in der katholischen Heilig-Geist-Kirche zu Heidelberg im Sommer 2019.

Gestaltet hat diese Skulptur der Leimener Holzbildhauer Bernhard Apfel. Er greift einen Gedanken auf, den ein Fresko aus dem 14. Jahrhundert nahelegt. Es ist im Deckengewölbe der St.-Jakobus-Kirche in Urschalling am Chiemsee zu sehen.

Dort findet sich eine ungewöhnliche Darstellung der Dreifaltigkeit: Gott, der Vater, Jesus Christus, der Sohn und zwischen beiden der Heilige Geist – in Gestalt einer weiblich anmutenden Person.

Sie könnte auf eine im Christentum lange Zeit verdrängte, die „weibliche“ Seite Gottes verweisen. Und damit auf eine noch sehr viel ältere Tradition: Im Hebräischen wird Geist „Ruach“ genannt und ist – weiblich. Ein Femininum!

Die Figur sitzt oben auf dem gläsernen Windfang am Portal der Kirche. So sieht man sie erst beim Hinausgehen. Der Künstler kommentiert das so:

„Das lodernde Haar ist Ausdruck des leidenschaftlichen, schöpferischen Bewusstseins und die eindeutige Handbewegung, hinauszugehen, um diese Welt geistreich zu gestalten, soll eindeutiger Auftrag Gottes sein, der dabei selbst offen, vieldeutig und geheimnisvoll bleibt.“

[Pfarrer Hans-Martin Köbler]