Luthers Schmerzen

Wir haben nicht nur einen Körper. Wir sind auch einer. Allen geistigen Höhenflügen und geistlichen Sehnsüchten zum Trotz. Mit unserem Körper treten wir in Kontakt mit dem, was uns umgibt. Wir nehmen in ihm auf, was wir zum Leben brauchen. Und scheiden es am Ende wenig appetitlich wieder aus.

Martin Luther ging es dabei nicht anders als uns Heutigen. Vielleicht mit dem Unterschied, dass der gewichtige Reformator die Krankheiten, die ihm zu schaffen machten, dem bösen Treiben des Leibhaftigen zuschrieb. In Unkenntnis moderner Vorstellungen von Zellfunktionen und Hygiene, Viren und Bakterien, ohne Mikroskop und Ultraschall deutete er seine Schmerzen als Anfechtungen des Satans: Er „hängt an mir mit gewaltigen Seilen und zieht mich mit Schiffstauen in die Tiefe.“ Als wär‘s für ihn „eine Badereise“.

Soviel ist sicher: Der Doktor aus Wittenberg litt an Hämorrhoiden und Verstopfung. Moderne Ärzte gehen davon aus, dass er unter „gestörter Darmmotilität“ litt, vermutlich hervorgerufen durch die ballaststoffarme Ernährung seiner Zeit.

Bereits in den kargen Jahren im Kloster der Augustiner Eremiten von Erfurt hatte er, auf seiner verzweifelten Suche nach einem gnädigen Gott, seinen Körper durch strengste Exerzitien gequält und nachhaltig ruiniert: Mit tagelangem Fasten und kräfte­zehrenden Nachtwachen.

Jahre später, auf der Wartburg, übersetzte er in nur zehn Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche. Inkognito, als „Junker Jörg“, mit Bart. Vom Papst gebannt, vom Kaiser geächtet und für vogelfrei erklärt. Der Koch des Burgvogts tischte dem geheimnisumwitterten Gast seines Fürsten üppige Mahlzeiten auf.

Die abrupte Umstellung der Ernährung blieb nicht ohne Folgen. Seinem Freund Philipp Melanchthon schrieb Luther im Mai 1521 nach Wittenberg: „Der Herr schlug mich durch heftigen Schmerz in den Posteriobus; mein Stuhl ist so hart, dass ich gezwungen werde, ihn mit großer Kraft bis zum Schweißausbruch herauszustoßen. Je länger ich es aufschiebe, desto mehr verhärtet er sich. Gestern habe ich nach vier Tagen einmal ausgeschieden. Dadurch habe ich die ganze Nacht weder geschlafen noch habe ich bis jetzt Ruhe. Bete – bitte! – für mich. Denn dieses Übel wird unerträglich, wenn es so weiter geht, wie es angefangen hat.“

Im Juni berichtet er Spalatin, dem Hof­kaplan des Fürsten: „Wie noch nie in meinem Leben leide ich unter hartem Stuhlgang, so dass ich an einer Heilung zweifle. Damit sucht der Herr mich heim, dass ich nicht ohne Kreuz lebe.“ Und im September desselben Jahres: „Heut hatte ich endlich nach sechs Tagen Stuhl, aber so hart, dass ich mir fast die Seele auspresste. Nun sitze ich da, mit Schmerzen wie eine Wöchnerin, aufgerissen, verletzt und blutig und werde diese Nacht keine oder nur mäßige Ruhe finden.“

Der weltbekannte Reformator war alles andere als der vitale und von Kraft strotzende Held, wie er gern gezeichnet wird. Er krümmte sich unter Gallen- und Nierenkoliken, litt an Harnstau und hohem Blutdruck, Schwindel- und Kreislaufattacken, Gichtknoten, Rheuma und Angina-pectoris-Anfällen. Ein offenes Bein, das nicht heilen wollte, wiederkehrende Mittel­ohrentzündungen und andere Infektionskrankheiten kamen hinzu. Am Ende seines Lebens soll er kaum noch fähig gewesen sein, sich längere Zeit auf den Beinen zu halten.

Seine Ärzte rieten ihm zu strenger Diät und zu mehr Bewegung. „Einfache Nahrung macht den Leib gesund und erhält ihn vor Krankheiten,“ gab Luther seinen Hörern 1539 in einer Predigt zu bedenken. Er selbst hielt sich nur bedingt daran: „Ich esse, was mir schmeckt, und leide darnach, was ich kann.“

Vor zwanzig Jahren diagnostizierte der Berliner Chirurg Hans-Joachim Neumann bei Luther neben dem chronischen Darmleiden, das Störungen des Kreislaufs und der Herztätigkeit verursachte, einen Defekt des Gleichgewichtsorgans im linken Innenohr: Das Meniere-Phänomen wird von Ohrensausen und Drehschwindel-Anfällen begleitet.

Die Krankheit geht mit Übelkeit, Blässe und Schweißausbrüchen einher und plagt die davon Betroffenen so sehr, dass „selbst psychisch robuste Personen in einen Zustand der Verzweiflung“ kommen können. Alles „satanische Faustschläge auf mein Fleisch“. Gut möglich, dass mancher unkontrollierte Wutausbruch des Reformators auf diese Pein zurück zu führen ist.

Andererseits waren es möglicherweise auch recht körperliche Voraussetzungen, die Luther schon in jungen Jahren zur Neuentdeckung der befreienden Botschaft von der Rechtfertigung „allein aus dem Glauben“ geführt haben: In den Tischreden bezeichnet er den Raum seiner Erleuchtung als „locus“ („Ort“) und „in cloaca“.

Seitdem wird heftig darüber spekuliert, ob der Augustinermönch am Ort seiner körperlichen Erlösung auch seine spirituelle Befreiung erlebt hat: „Da fühlte ich mich wie ganz und gar neugeboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies ein.“

Im Sommer 2004 entdeckten Archäologen auf dem Grundstück des Lutherhauses in Wittenberg die Latrine des Reformators: Einen rund 30 Zentimeter breiten Sitz aus Stein mit Abfluss. War es dort? Oder doch „nur“ in seinem Arbeitszimmer im Turm über der Toilette. Als Ergebnis einer längeren Entwicklung?

Martin Luther starb am 18. Februar 1546. Im Alter von 62 Jahren. An einem Herz­infarkt.

[Hans-Martin Köbler]